Fanfiction

Im Fahrstuhl

Autor: Resi

Sandra sah Marie fragend an, fragte sich, ob es richtig war, die Prominenz zu erwähnen. Marie schaute einen Moment ernst zurück, dann schmunzelte sie. "So eilig ist das nun alles auch nicht", sagte sie, "Aber ich würde mich doch wohler fühlen, wenn ich hier raus wäre." "Ich auch." Sie warteten. Warteten, daß sich der Herr vom Notdienst wieder meldete. Wieder waren der eigene Atem und der der anderen das einzige, was sie hörten. Sandra hätte gerne ein Gespräch angefangen, doch sie hatte nicht die geringste Ahnung, worüber sie mit Marie sprechen sollte. Nun hatte sie endlich die einmalige Gelegenheit, daß Marie ihr nicht davonlaufen konnte, stand ihr das erste Mal im Leben persönlich gegenüber - und wußte nicht, was sie sagen sollte. Die Temperatur im Fahrstuhl stieg leicht an. Marie steckte sich den Finger in den Ausschnitt und zog ihn ein bißchen auseinander. "Heiß hier", sagte sie in die Stille hinein. "Hoffentlich ist nicht die Lüftung kaputt." "Das hoffe ich auch..." In diesem Moment meldete sich der Techniker wieder. "Hallo?" Sandra beugte sich zum Lautsprecher herunter. "Ja?" "Der Fehler ist erkannt", sagte die durch den Lautsprecher metallisch klingende Stimme. "Aber es wird ein bißchen dauern. Wir schicken jemanden vorbei. Aber zwanzig Minuten wird es schon dauern. Wir sind am ganz anderen Ende der Stadt." "So lange?" "Ja, tut mir leid, haben Sie Geduld." Wieder knackte es, und die Verbindung war unterbrochen. "Zwanzig Minuten?" wiederholte Marie ungläubig und zog ärgerlich die Augenbrauen zusammen, so daß sich dazwischen eine kleine Längsfalte bildete.

Entnervt lehnte sie den Hinterkopf an die Wand, und schloß die Augen. Sandra sah sie an. Nutzte die Gelegenheit, in der Marie ihre Augen geschlossen hatte und ihre Blicke nicht bemerken würde. Wie schön sie war! Und wie schlank. Und so klein. Sandra betrachtete ihre perfekt geformten Augenbrauen, ihre große und dennoch wohlgeformte Nase, ihre schmalen roten Lippen, ihren Hals. Sie lauschte ihrem Atem. Überlegte noch immer, worüber sie mit ihr sprechen könnte. Da öffnete Marie ihre Augen wieder, sah Sandra an und ertappte sie dabei, wie sie Marie heimlich musterte. Sie schaute Sandra eine Weile prüfend an und legte dann ihren Kopf ein wenig schräg. "Du kommst mir bekannt vor", sagte sie schließlich. "Woher?" fragte Sandra entgeistert. Das konnte eigentlich überhaupt nicht sein. Sie mußte sie verwechseln. "Doch." Marie kniff nachdenklich die Augen ein wenig zusammen. Sah Sandra intensiv an, während sie überlegte. Sandra fühlte sich von ihren Blicken durchbohrt. Und dann fragte Marie: "Du hast mir mal geschrieben, stimmt´s?" Sandra nickte fassungslos.

Nicht nur, daß Marie wohl die ganze Zeit lang gewußt hatte, daß sie nicht zufällig auch hier im Fahrstuhl war, sondern daß sie ein Fan war - nein, sie erinnerte sich an sie, weil sie ihr geschrieben hatte. Sie erkannte sie wieder, weil sie ihr ein Foto mitgeschickt hatte. "Auf dem Foto waren deine Haare noch ein bißchen kürzer", sagte Marie. Sandra konnte nicht glauben, was sie da hörte, aber es stimmte, auf dem Foto waren ihre Haare gerade mal bis zu den Schultern gegangen. Jetzt hingen sie ihr fast bis zum Po herunter. Sie nickte mit offenem Mund. Ihr fehlten die Worte. Als sie sie endlich wiederfand, fragte sie: "Erinnerst du dich an alle Briefe, die du kriegst?" Im selben Moment fragte sie sich, ob es richtig war, Marie einfach mit "du" anzureden, denn sie war immerhin eine über vierzig Jahre alte Frau, sie begegneten sich an diesem Tag das erste Mal und Marie hatte ihr niemals das "du" angeboten. Doch Marie schien sich nicht daran zu stören. Sie war es gewohnt. "Nicht an alle", sagte sie, "Aber an einige schon." Sandra spürte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg und sie heiß und rot werden ließ. Sie begann fieberhaft zu überlegen, was sie geschrieben hatte, und ob irgendetwas Peinliches darin gestanden hatte.

Aber sie konnte sich nicht richtig daran erinnern. Es war ja nicht ihr erster Brief an Marie gewesen. "Danke übrigens für den Brief", sagte Marie. "B-bitte", stotterte Sandra. In diesem Moment kam ihr wieder in den Sinn, daß sie ja wiederum einen Brief für Marie dabei hatte. Sie überlegte, ob sie ihn ihr wirklich geben sollte. Doch dann erinnerte sie sich daran, wie lange sie daran herum gefeilt hatte. Sie hatte sich die größtmögliche Mühe gegeben, in keiner Weise aufdringlich zu sein oder Dinge zu schreiben, die Marie unangenehm sein könnten. Andererseits hatte sie auch wieder Dinge geschrieben, die sie ihr niemals direkt ins Gesicht sagen könnte - auch jetzt nicht, da sie mit Marie ganz allein und ohne Zuhörer war. Sie zog den Brief aus ihrer Tasche und hielt ihn Marie entgegen. "Ich hab dir nochmal geschrieben..." "Oh", Marie zog die Augenbrauen hoch - sie sah tatsächlich erfreut aus. Nahm Sandra den Umschlag aus der Hand. "Danke sehr. Ich werde ihn später lesen." "Ist in Ordnung", sagte Sandra und war froh darüber, denn es wäre ihr unangenehm gewesen, wenn Marie ihn in ihrem Beisein gelesen und sofort über ihre Gefühle Bescheid gewußt hätte. Marie betrachtete den Umschlag, den Sandra mit kleinen glänzenden Aufklebern verziert hatte und auf den sie in geschwungener Schrift "Für Marie" geschrieben hatte. Marie drehte und wendete den Umschlag, und Sandra beobachtete sie aus dem Augenwinkel dabei.

Sie fragte sich, ob Marie jeden Brief, den sie bekam, so aufmerksam betrachtete, bevor sie ihn öffnete. Vermutlich nicht. Dann fragte Marie: "Wieviel Zeit ist schon vergangen?" Sandra sah auf ihre Uhr. "Keine zwanzig Minuten jedenfalls." Marie seufzte tief. "Ich weiß nicht, ob ich mir das einbilde, aber die Luft hier drin wird immer schlechter." Das wurde sie wirklich. Es wurde immer wärmer und die Luft begann, abgestanden zu riechen. Vielleicht war wirklich die Lüftung kaputt. "Soll ich nochmal Alarm drücken?" fragte Sandra fürsorglich. "Laß mal", Marie winkte ab. "Die werden schon irgendwann kommen." Sandra sah Marie an; sie war etwas blasser geworden. "Alles in Ordnung?" fragte Sandra besorgt. Marie nickte wortlos. Einige Zeit verging, in der sie beide nichts sagten. Und dann ging Marie irgendwann in die Hocke, setzte sich auf den Boden und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. Sie stützte ihre Stirn in ihre Handflächen. "Wirklich alles in Ordnung?" fragte Sandra noch einmal. "Es ist nur mein Kreislauf, glaube ich." Sie blickte zu Sandra hinauf. "Ich habe noch nicht so viel gegessen, weißt du." Sandra fiel ein, daß sie in ihrer Handtasche eine kleine Flasche Mineralwasser hatte.

Sie holte sie flugs heraus und hielt sie Marie entgegen. "Möchtest du?" "Oh ja, gerne." Marie drehte den Verschluß auf und nahm einen kleinen Schluck. "Trink so viel du willst", forderte Sandra auf und beobachtete verstohlen und nicht ganz ohne heimliches Behagen, wie Maries Lippen die Flaschenöffnung umschlossen. Sie nahm noch einige Schlucke und gab Sandra die Flasche zurück. "Danke sehr." Sandra betrachtete die Flaschenöffnung eine Weile, als ob dort irgendwelche Spuren zu sehen sein könnten, bevor sie den Verschluß wieder zudrehte. "Es ist wirklich warm", sagte Marie stimmlos, und Sandra beschloß, noch einmal den Alarmknopf zu drücken. Der Mann meldete sich. "Wie lang dauert es denn noch?" fragte Sandra energisch. "Die Leute sind schon unterwegs", antwortete der Mann, "Aber sie stehen im Stau, es ist eine ungünstige Uhrzeit." "Der Dame, mit der ich hier feststecke, geht es nicht besonders gut", gab Sandra zurück, "Die sollen sich beeilen." "Dame?" fragte der Mann. "Sie meinen die Prominenz?" "Ja, genau die. Beeilen Sie sich." "Wer ist es denn nun eigentlich, wenn ich fragen darf?"

Sandra sah Marie fragend an, und Marie machte eine wegwerfende Handbewegung, die bedeutete, daß sie es ruhig sagen sollte. "Marie Fredriksson", sagte Sandra also in das Mikrofon. "Marie wer?" fragte der Mann. "Fredriksson. Die von Roxette, wissen Sie..." "Ach die." Jetzt hatte er begriffen. "Die blonde, ja? Sagen Sie ihr, wir tun unser bestes." "Tun Sie das bitte auch." Die Verbindung war wieder beendet. Sandra blickte Marie entschuldigend an. "Es gibt immer noch Leute, die deinen Namen nicht kennen..." Marie zuckte mit den Schultern. "Ich könnte dir auch nicht alle Vor- und Nachnahmen zum Beispiel der Rolling Stones sagen." "Manche denken auch, ‚Roxette' wäre dein Vorname." Marie lachte leise. Doch dann wurde ihr Gesicht wieder ernst, drückte Unbehagen aus. Es ging ihr ganz offensichtlich schlecht. Sandra ärgerte sich, daß sie nicht irgendetwas Essbares dabei hatte. Auch sie selbst hätte gut etwas vertragen können. Es wurde wirklich immer wärmer und drückender in der kleinen Kabine. Bald konnte auch Sandra nicht mehr stehen, und sie setzte sich, mit einem kleinen Abstand zu Marie, ebenfalls auf den Fußboden. Maries Atem ging schwer. "Hast du nochmal deine Flasche da?" fragte sie mit matter Stimme. Sandra beeilte sich, sie ihr zu geben.